Sa 25.05.2019 Frankfurt - Minsk

Belarus gilt immer noch als weißer Fleck am Rande von Europa - terra incognita, genau mein Ding. Ich habe ja bekanntlich eine Vorliebe für Reiseziele mit einem gewissen Thrill oder Kick. Und Belarus liegt völlig abseits der üblichen Touristenströme.

Bei SKR Reisen habe ich eine der wenigen angebotenen Gruppenreisen ins "Luka- Land" gebucht. Nein, nicht in den Freizeitpark bei Chauray, Frankreich, sondern nach Belarus, Weissrussland. Es ist das Land des Aljaksandr Lukaschenko – oder kurz Luka, wie viele junge Belarussen ihren diktatorischen Präsidenten und Herrscher von Putins Gnaden nennen. Belarus ist eine von mehreren ehemaligen Sowjetrepubliken, die einem Comrade in die Hände fiel, der zum Diktator mutierte.

Nach dem Empfang am Flughafen von Minsk, der Hauptstadt von Belarus, werden wir zu unserem Hotel, dem Hampton by Hilton Minsk City Centre, gebracht. Dass eine westliche Hotelkette hier ein Hotel betreiben kann, beweist zumindest, dass wir nicht in Nordkorea gelandet sind.

Unsere kleine Gruppe von 13 Personen wird der einheimische Reiseführer Wasili Kostrow durch sein Land begleiten. Wir stellen die Uhren 1 Stunde vor auf die Eastern European Time (EET). Weissrussland hat derzeit keine Umstellung auf Sommerzeit vorgesehen.

Werden wir nur zu sehen bekommen, was wir sehen sollen? Warten wir es ab. Schließlich ist Belarus das einzige ehemalige Ostblockland, in dem der alte Geheimdienst namens KGB als mächtiges Fossil überlebt hat und bis heute das tägliche Leben der Bürger überwacht. Der KGB ist Lukaschenkos Lebensversicherung.

Unseren Stadtrundgang beginnen wir an der 2006 eröffneten Nationalbibliothek. Die Form des Gebäudes, ein Rhombuswürfeloktaeder, erinnert bewusst an einen geschliffenen Diamanten, was den Wert und den Reichtum von Information, Wissen, Kultur und Bildung symbolisieren soll. Die Minsker nennen das Gebäude despektierlich "Kampfstern Galactica", die zahlreichen Überwachungskameras tragen sicher zu diesem Namen bei. Die Nationalbibliothek beeindruckt nicht nur durch ihre außergewöhnliche Architektur, sondern auch durch die hohe Anzahl an Büchern aus und über Belarus. Jeder Weltenbürger kann sich einen Leserausweis ausstellen lassen und dann Bücher seiner Wahl bestellen. Diese werden 20 min später zur Verfügung gestellt und können in den großen Lesesälen gelesen werden. Mitnehmen darf man die Bücher nicht. Sie stehen dem geneigten Leser aber 30 Tage lang reserviert zur Fortsetzung der Lektüre täglich zur Verfügung.

Von der Plattform auf dem Dach der Nationalbibliothek hat man eine herrliche Aussicht über die Dächer der Stadt. So sehen wir von hier auch auf das "Tal der Elenden", wie der Rest der Bevölkerung die Siedlung der Reichen des Landes, bestehend aus Einfamilienhäusern und Bungalows, nennt.

Über 40 % der Bevölkerung sind Atheisten, die meisten Gläubigen, gehören der russisch orthodoxen Kirche an. Daneben gibt es noch die Minderheiten der Katholiken, Protestanten und Juden sowie Anhänger der Naturreligionen. Im Minsker Stadtteil Tatarskaja Slabada leben seit dem 15. Jh. litauische Tataren (Lipka-Tataren). Sie sind Muslims, ihre Religionsgemeinschaft macht nur 0,1 % der weißrussischen Bevölkerung aus.

Wasili führt uns durch seine Hauptstadt. In Belarus spricht man Weißrussisch und Russisch. In beiden Sprachen ist das Siezen in Verbindung mit dem Vornamen sehr verbreitet. So sagt man zum Beispiel "Guten Tag Olga, wie geht es Ihnen?" oder "Wasili, bitte erzählen Sie uns von der Geschichte Ihres Landes." Aber nach kurzer Zeit duzen wir uns alle.

Die Stadt Minsk wird in den Chroniken zum ersten Mal im Jahr 1067 erwähnt. Leider gibt es nur sehr wenige materielle Zeugnisse der fast 1000-jährigen Geschichte von Belarus. "Bela" heißt schlicht weiß. Der Wortteil "rus" verweist auf die mittelalterliche Kiewer Rus, ein Großreich, das zur Wiege mehrerer Kulturen und Nationen wurde. Die Ukraine, Russland und Belarus gehörten dazu, jeweils mit eigenen Sprachen. Der Name "Weißrussland" suggeriert indes eine Zugehörigkeit zu Russland. Das ist falsch.

Der belarussische Kulturraum war gemeinsam mit Litauen und der Ukraine Teil des Großfürstentums Litauen, später des russischen Zarenreichs und ab 1922 eine der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Erst mit Auflösung der Sowjetunion wurde Belarus 1991 unabhängig und erst seitdem kann man mit gewissen Einschränkungen von einem autonomen Staat sprechen.

Im Zweiten Weltkrieg haben die deutschen Truppen die Stadt nahezu vollständig zerstört. Den Rest erledigten die Russen, die fortan das Schicksal des Landes bestimmten. Die Hauptstadt von Belarus ist vielerorts auch heute geprägt durch eine Architektur im sowjetischen Empire-Stil mit vielen breiten Alleen, riesigen Verwaltungsgebäuden und Plätzen. Der Unabhängigkeitsplatz von Minsk ist mit einer Fläche von sieben Hektar sogar größer als der Rote Platz in Moskau.

Was uns sofort auffällt ist die fast schon sterile Sauberkeit in der Stadt. Keine Zigarettenkippen, Papier oder Plastikabfälle auf dem Boden. Ich beobachte eine junge Frau, die quer über einen Platz läuft um ein benutztes Kaugummi in einen Abfallbehälter zu werfen. Alle Rasenflächen, und davon gibt es sehr viele, sind frisch gemäht. Die Innenstadt um den Fluss wirkt fast wie eine Ausstellung. Wasili meint, es gebe eben genug Straßenfeger und Gärtner.

In diesen Tagen findet man überall im Straßenbild der Stadt das Füchslein Lesik, Maskottchen der 2. Europaspiele 2019, die hier Ende Juni stattfinden. Wasili spricht von "Lessik" und ich verstehe anfangs "Lassie"... Lesik ist eine Anspielung auf den Fuchs aus "Dem Kleinen Prinzen" von Antoine De Saint-Exupery. Bei den Europaspielen werden mehr als 4000 Sportler aus 50 Ländern in 15 Sportdisziplinen gegeneinander antreten, darunter 150 deutsche Sportler. Präsident Lukaschenko wird dieses Event zur prunkvollen Selbstdarstellung seines Landes nutzen, aber zu Veränderungen im Land selbst wird es nicht führen.

Wir besuchen die am Ufer der Swislatsch gelegene Traezkae- Vorstadt (dt.: Dreifaltigkeits- Vorstadt). Es ist lediglich eine Häuserzeile, die der Kulisse einer Altstadt gleicht, leider aber wenig historisch. Der Versuch einer Rekonstruierung des altstädtischen Viertels aus dem 19. Jh. ist misslungen. Die Traezkae- Vorstadt wurde benannt nach der ersten katholischen Kirche von Minsk, wo sich heute einige Galerien und Museen, sowie das Opernhaus befinden. Direkt daneben wurde eine exclusive Apartmentanlage gebaut, in der man teure Wohnungen mieten kann. Die Mehrheit der Stadtbevölkerung wohnt in den altbekannten Plattenbauten.

Wasili erzählt, dass nach dem Zerfall der Sowjetunion die Wohnungen Platteden damaligen Mietern für sehr billiges Geld zum Kauf angeboten wurden. Das hätten fast alle genutzt und Eigentum erworben. Da es aber keine Regelung zu Sonder- und Gemeinschaftseigentum gebe, seien z.B. die Treppenhäuser in den Plattenbauten "Niemandsland" und dem Verfall überlassen. So würden sie leider auch aussehen.

Als Visitenkarte der Hauptstadt mit ihren 2 Mio. Einwohnern gilt die römisch-katholische Kirche der Heiligen Simon und Helena, die im Volksmund die Rote Kirche genannt wird. Sie wurde von reichen Adligen gestiftet zum Andenken an ihre früh verstorbenen Kinder Simon und Helena. Weitere Vorzeigebauten sind das weiße Rathaus auf dem Freiheitsplatz und die Oberstadt. Letztere ist das Herz des alten Minsk, wo sich auch der orthodoxe Dom des Heiligen Geistes und die katholische Marien- Kathedrale befinden.

Mich interessiert die ehemalige "Kochfabrik" hinter der Simon- und Helena- Kirche. 478 Köche sollen dort in den 30er Jahren drei Mittagshallen und ein Restaurant versorgt haben, in dem gleichzeitig 1.000 Menschen speisen konnten. Bis vor wenigen Jahren konnte man dort in der Kantine essen, sagt Wasili. Jetzt wird sie gerade renoviert bzw. umgebaut und einer neuen Bestimmung zugeführt.

Am Abend geht es zur überdachten Terrasse des traditionellen Restaurants Korchma Starovilenskaya. Es liegt in der Traezkae- Vorstadt direkt an der Svislach, dem Fluß, der Minsk durchströmt. Von Wasili erfahren wir, welche Gerichte die Menschen hier gerne essen - und was sie trinken.

Wie in den Nachbarländern ist hochprozentiger Wodka (Wasili: "Wässerchen für Brüderchen") auch in Belarus sehr beliebt. Ein Fest ohne Wodka ist kein Fest. Auch im Ausland bekannte und hochwertige Wodkasorten sind Russian Cult (vormals Minskaya) und Partisan. Man bestellt in der Regel eine Flasche oder eine Karaffe (200-500 ml). Allerdings gibt es unzwischen auch ein einzelnes Glas Wodka (für unter 2 €) zu bestellen. Der Schnaps wird pur und eisgekühlt getrunken, meistens immer wieder zwischendurch bei einer langen Mahlzeit mit vielen kleinen warmen oder kalten Speisen.

Je nach Grad der Reinigung wird handelsüblicher Wodka nach russischem Reinheitsgebot in 3 Kategorien unterschieden: Standard (einfach), Extra (gehoben) und Lux (Spitzenklasse). Minskaya und Partisan gehören beide zur Lux- Kategorie und man kann beide Wodkasorten auch hier in Deutschland bekommen. Ich empfehle den Partisan Wodka wegen seines unschlagbaren Preis- Leistungsverhältnisses. Sehr empfehlenswert sind ferner Bulbash Nr.1 – Malt Spirit Wodka aus Minsk und Wild Duck Wodka aus Brest.

Hauptkriterium bei der Klassifizierung ist der Methylalkohol, welcher bis auf sehr wenige Ausnahmen auch in fast allen anderen gebrannten Spiritousen vorkommt. Beispielsweise sind in Williamsbränden die Konzentrationen oft hundertfach höher, als in gewöhnlichem Wodka. Trotzdem kann man diese Brände unbedenklich genießen. Zuviel Methylalkohol kann aber unangenehme Nebenwirkungen wie Kater und Übelkeit verursachen. Im Gegensatz zu fast allen anderen Bränden wird bei sorgsamer Wodkaproduktion deshalb soviel Methylakohol wie möglich elemeniert. Nicht umsonst gilt guter Wodka deshalb als die reinste aller Spiritousen.

Im Supermarkt kostet eine Flasche sehr guten Wodkas hier unter 10 BYN, also weniger als 5 EUR! Dennoch trinken Belarussen nicht nur Wodka, sondern auch Tee, Kaffee, Bier, Säfte und Kwas. Letzteres ist ein erfrischendes, alkoholfreies Gebräu aus Schwarzbrot, Zucker, Hefe und Wasser. Das Getränk gibt es in einer hellen und einer dunklen Variante und es schmeckt ein wenig wie Malzbier.

Was sollte man - so wie wir - in Belarus unbedingt probieren?

- Draniki (Reibekuchen) mit Smetana (saurer Sahne) oder mit rotem Kaviar
- Weraschtschaka (Fleisch- bzw. Wurststückchen mit gewürzter Soße)
- Borschtsch (Suppe aus Rote Bete, Zwiebeln, Weißkohl, Karotten, Kartoffeln, Tomaten und Rindfleisch)
- Blini (Pfannkuchen) mit Lachs

Frittierte Teigwaren stehen ganz oben auf der Beliebtheitsskala - und Pizza, die man mit sauren Gurken und Mayonnaise belegt. Letzteres haben wir aber weder gesehen, noch gegessen. Na ja, das ist wohl wirklich Geschmacksache...

In Belarus gibt es Nahrungsmittel, die bei uns nur selten zu finden sind, z.B. Birkensaft. Die klare, farblose Flüssigkeit wird im Frühjahr von den Birken "gezapft" und in Flaschen abgefüllt verkauft. Der Saft einer Birke enthält viele wertvolle Inhaltsstoffe und Mineralien und wirkt als Entgiftungsmittel während einer Fastenzeit. Er hat wenig Eigengeschmack. Äußerlich angewendet soll er gegen Hautirritationen, Rheuma und Gicht wirken. Und dann gibt es da noch Mors, ein vitaminreiches Getränk aus Waldbeeren, hier vornehmlich Moosbeeren. Der Beerensaft schmeckt ähnlich wie verdünnter Cranberrysaft. Wir haben sowohl Birkensaft als auch Mors verkostet.

Für Schokoladenfreunde einfach köstlich und unwiderstehlich sollen russische Schokoladen, Pralinen und Konfekt sein. Das habe ich schon bei meinem Besuch der russischen Exklave Kaliningrad gehört. Es gibt über 100 verschiedene Sorten. Die bekannteste und beliebteste ist Aljonka, die Schokolade mit dem Rotkäppchen- Konterfei eines pausbäckigen, blauäugigen Mädchens. Aber ich bin kein Schokoladenfreund.

Auch echten Kaviar kann man hier günstig erwerben. Bekanntlich ist Beluga- Kaviar die höchste Qualitätsstufe. Mittlerweile gewinnt man den Kaviar nicht mehr durch Schlachtung und Aufschlitzen der weiblichen Störe, sondern mehrfach vom lebenden Stör durch Abstreifen der Eier. Ob das tierfreundlicher ist, vermag ich nicht zu sagen.

Unsere erste Nacht in Weissrussland verbringen wir im Hotel Hampton. Im Bad gibt es Seifenspender von "Waterl' Eau". Kein Scherz! Das wollen wir in Belarus aber nicht erleben...

So 26.05.2019 Minsk - Hrodna

Ein typisches Frühstück beginnt hier mit einem Wareniki. Warenikis sind kleine Teigtaschen, die mit den verschiedensten Produkten gefüllt werden. Beim Frühstück wird die leichte Variante mit Käse oder Früchten bevorzugt. Auch Syrniki, Quarkpfannkuchen, in Öl gebacken und mit Marmelade serviert, finden sich auf dem Frühstückstisch. In den Touristenhotels gibt es natürlich auch das bekannte Continental Breakfast oder auch English Breakfast.

Jetzt starten wir mit unserer Rundreise. Beim Verlassen der Hauptstadt fahren wir an den zahlreichen modernen Sportstätten vorbei, die nicht nur für die Europaspiele errichtet wurden. Ich bin beeindruckt. Das Bauen monumentaler Sportarenen haben Diktatoren zu allen Zeiten verstanden.

Belarus hat - wie so viele - mit einem weiteren mächtigen Freund angebandelt: China. Wir passieren einen riesigen, im Bau befindlichen Industriepark am Rande von Minsk, den die Chinesen finanzieren und der bis 2030 fertiggestellt sein soll. Uns fallen die Namen Wanda und Huawei auf, die beispielhaft als Bauherren plakatiert sind. Und dann gibt es da noch eine Autofabrik in der Hauptstadt, in der chinesische Pkw der Marke Geely produziert werden. Der chinesische Riesen- Krake hat seine Tentakel überall in Europa, Asien und Afrika ausgebreitet und befindet sich auf dem Weg zur Weltmacht Nummer 1. Minsk ist auch eine der Stationen der "Neuen Seidenstrasse", der Bahnlinie von Chongqing nach Duisburg.

Nach der lebendigen Metropole erleben wir heute die Stille und Harmonie unberührter Natur auf dem Weg nach Hrodna. Wasili verkürzt uns die Fahrzeit mit den üblichen Erläuterungen eines Reiseführers zu Land und Leuten: Bildungssystem, Gesundheitssystem, Gebräuche und Sitten.

Belarus war als Nachbarstaat der Ukraine 1986 überproportional von der Atomkatastrophe in Tschernobyl betroffen, besonders der südöstliche Landesteil, der nur mit Sondergenehmigung zu bereisen ist und den wir nicht besuchen werden. 70% des nuklearen Fallouts soll über dem Süden von Belarus niedergegangen sein. Kurz vor Beginn meiner Reise nach Belarus startet die von Sky und HBO produzierte fünfteilige Serie "Chernobyl" im Pay- TV. Den Eindruck von den ersten beiden Folgen nehme ich mit nach Belarus. Es ist die bedrückende Erkenntnis, welche ungeheuerliche Vernichtungsenergie durch diesen Super- GAU freigesetzt wurde. "Die Geister, die ich rief, werd' ich nun nicht los" heißt es in Goethes berühmtem Gedicht Der Zauberlehrling. Und so verhielt es sich damals wohl auch bei dem Betriebspersonal des Kernreaktors ... nur dass es keinen "alten Meister" gab, der den Verlauf des Unglücks hätte stoppen können.

Heute, 30 Jahre später, soll der Aufenthalt in Belarus unbedenklich sein - wenn man auf die weiterhin kontaminierten Pilze, Beeren, Kartoffeln, Möhren, Süßwasserfische, Milch und Wild aus dem verseuchten Südgebiet verzichtet. Das wird auch vom deutschen Auswärtigen Amt versichert. Wissenschaftler haben jedoch erklärt, dass nicht nur der Südosten, sondern auch das Gebiet um Hrodna und Brest an der polnischen Grenze vom Fallout betroffen war - und dorthin sind wir unterwegs... Wir ergeben uns dem Schicksal.

Wir verlassen die asphaltierte Strasse, setzen die Fahrt über Feld- und Waldwege fort und halten an einem alten Gehöft. Inmitten grüner Wälder, janz weit draußen wohnt der Musiker Ales Los mit seiner ebenfalls musisch orientierten Frau Alesia. Sie laden uns in ihr Haus ein. Ales beginnt mit einer Vorführung traditioneller Instrumente, die er im Laufe der Zeit gesammelt hat, und gibt dazu umfangreiche Erklärungen. Jedes dieser Instrumente wird uns von ihm und Alesia mit einer kleinen Melodie vorgeführt. Das 1 1/2 stündige Kammerkonzert ist für musikgeschichtlich interessierte Zuhörer bestimmt sehr interessant. Ich bin ehrlich, ich kann mit fortschreitendem Vortrag meine zunehmende Langeweile nicht verheimlichen.

Im Anschluß an die kleine Hausmusik serviert die Dame des Hauses im Garten Kissel, ein dünnflüssiges Fruchtgetränk. Dazu gibt es Blini, eine Teigspeise vergleichbar mit kleinen deutschen Pfannkuchen, mit Beerenmarmelade. Die beiden Musiker sind natürlich weitgehend Selbstversorger in ihrem Wald.

Unser Tagesziel ist die Stadt Hrodna (weißruss.) bzw. Grodno (russ. u. poln.) im Dreiländereck mit Polen und Litauen. Aufgrund ihrer Lage an der Memel und dem ständigen Einfluss der benachbarten Länder ist die Architektur der Altstadt weniger sowjetisch geprägt als in anderen belarussischen Städten. Die Herrschaft über die Stadt wechselte ständig zwischen Litauen, Polen und Russland. Seit 1991 gehört die Stadt zum unabhängigen Belarus. Hier nennen sie die Memel, wie wir den Fluß kennen, Njoman, "Vater der Flüsse". Der Fluss verbindet das Land mit Europa – historisch und geografisch.

In der Vul. Saveckaja (Sowjetstraße), der historischen Fußgängerzone erwarten uns Häuser aus vergangenen Jahrhunderten, in denen sich heute Restaurants, Boutiquen und Cafés befinden. Die orthodoxe Boris- und Gleb- Kirche ist als eine der ältesten Kirchen Weißrusslands ein Wahrzeichen von Hrodna. Besonders beeindruckt die mit Kreuzen aus bunten Steinen verzierte Fassade der Kirche. Diese architektonische Stilrichtung war einzigartig in der Hrodnaer Region.

Religion in Belarus? Das Land kommt aus der jahrzehntelangen Zeit des sozialistischen Atheismus. Mittlerweile suchen die Menschen wieder göttlichen Beistand. 70% der Gläubigen gehören der russisch-orthodoxen Kirche an. 20% sind Katholiken, der Rest verteilt sich auf Protestanten, Juden und Muslims (Tataren). Und dann gibt es noch die Kirche der Altgläubigen, der auch Wasili angehört. Leider erzählt er uns nur sehr wenig von seiner Religion. Die Altgläubigen spalteten sich als Bewahrer alter Traditionen im 17. Jh. von der orthodoxen Kirche ab und wurden seitdem im russischen Reich verfolgt. Deshalb siedelten sie sich am Rand des Staatsgebietes an, im Westen wie im Osten.

Seit 2016 gibt es "neues Geld". Im Zuge der Währungsreform wurden alte Belarussische Rubel (BYR) gegen neue (BYN) im Verhältnis 10.000 : 1 getauscht. "Wir waren alle Millionäre" sagt Wasili mit einem Augenzwinkern. Zum Zeitpunkt unserer Reise beträgt der Kurs gegenüber dem Euro 1 EUR = 2,35 BYN. Wasili meint, die Rubel-Noten seien den Euro-Noten zum Verwechseln ähnlich. Da bin ich anderer Meinung.

Wir verbringen eine Nacht im Hotel "Neman" in Hrodna. Das Hotel hat zwei Restaurants, ein klassisches Lokal und ein rustikales Bierlokal.

Fürs Dinner wählen außer mir noch 7 weitere Mitreisende das Bakst Restaurant mit Blick über die Memel bzw. über den Njoman- eine Empfehlung von Ludmilla, unserer örtlichen Reiseführerin. Die Qualität der servierten Speisen ist eher durchschnittlich, die Preise dagegen für hiesige Verhältnisse gehoben.

Auf einen Absacker kehren wir noch im Bierlokal des Hotels ein. Es liegt im Keller und erinnert an eine amerikanische Sportsbar. Hier hätten wir bestimmt auch gut essen können.

Mo 27.05.2019 Hrodna - Brest

Wasili hat am Vorabend darauf hingewiesen, dass unser Hotel unter staatlicher Leitung steht. Es gebe kein Frühstücksbuffet, dafür könne man aus 5 feststehenden Menüs wählen. Das Servieren dauere aber ca. 45 min, da noch eine polnische Gruppe im Hotel logiere. Dieser Hinweis stellt sich als falsch heraus, innerhalb von 10 min hat jeder sein bestelltes Frühstück auf dem Tisch.

Wir fahren weiter nach Brest. Die Stadt an der polnischen Grenze hat in ihrer fast 1.000-jährigen Geschichte viel erlebt. Durch Grenzverschiebungen gehörte sie immer wieder zu unterschiedlichen Staaten und wurde mehrfach niedergerissen und wieder neu errichtet. Hier wurde 1918 der Friedensvertrag von Brest-Litovsk (der polnische Name der Stadt war Brześć Litewski) zwischen Lenin und dem Deutschen Reich geschlossen. Inhalt dieses Vertrages war u.a. dass Russland ein Viertel seines europäischen Territoriums aufgeben musste.

Zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten Weißrusslands gehört die imposante Festung von Brest. Zwischen den roten Ziegelsteinmauern und den Gedenkmonumenten wird die Geschichte der Heldenfestung spürbar. Neben Denkmälern und Kirchen gehören zu der mächtigen Anlage auch mehrere Museen, in denen sehenswerte Fundstücke ausgestellt sind.

Am sternförmigen Portal des Haupteingangs ertönt alle paar Minuten zunächst das Heulen angreifender deutscher Sturzkampfbomber, dann die historische Stimme des Sprechers von Radio Moskau, der den Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion am 22.6.1941 vermeldet, und zuletzt ein Chor mit dem Lied "Steh auf, großes Land!"

Die Größe der monumentalen Ehrendenkmäler "Durst" und "Der sowjetische Kämpfer"erschlägt den Betrachter. Auf der ganzen Anlage steht der Besucher - wohl beabsichtigt - ungeschützt in gleissendem Sonnenlicht. Ich suche Schutz an einem Verkaufsstand für Eis und Getränke und probiere eine Dose gekühltes dunkles Kwas. Sehr erfrischend und gut!

Unser Übernachtungshotel ist das Hotel "Vesta" in Brest.

Di 28.05.2019 Brest - Ruzany - Njasviz

Zum Frühstücksbuffet gehört hier auch eingelegter Hering in Portionshappen. Das kenne ich schon aus dem Baltikum.

Heute fahren wir in den kleinen Ort Ruzany. In seiner Blütezeit war er bekannt für seine Tuch- und Teppichherstellung, sowie für die Märkte und Messen, die hier stattfanden. Doch dann im 17. Jh. wurde die Stadt zu einer der ärmsten Siedlungen der Region. In der heutigen Zeit lockt Ruzany vor allem mit dem verfallenen Sapieha-Palast. Die Ruinen des nur teilweise restaurierten Palastes der Sapieha-Familie befinden sich mitten auf der grünen Wiese. Das Eingangstor zur Anlage mit den beiden Flügelgebäuden wurde bereits restauriert. Hier ist ein Museum zur Schlossgeschichte und zur Geschichte der Familie Sapieha untergebracht. Jetzt haben die Arbeiten am östlich gelegenen Theater- Gebäude begonnen, aus dem ein Hotel werden soll. Keiner von uns kann sich vorstellen, welche Gäste hier einchecken sollten und aus welchem Grund. Die völlig verfallenen Arkaden sollen konserviert werden. Für die von ihnen umschlossene große Wiese gibt es hingegen noch kleinen Plan.

Auf dem Parkplatz stellen wir fest, dass unser VW- Transporter bedenklich viel Kühlwasser verliert. Auch die im Ort aufgesuchte Werkstatt kann da nicht weiterhelfen. Das bedeutet, dass Juri, unser Fahrer, alle 10 km anhalten muss um Kühlwasser nachzufüllen.

Es geht weiter zum prachtvollen Schloss von Mir (UNESCO Weltkulturerbe) aus dem 16. Jh., einem Beispiel der weißrussischen Backsteingotik, das später im Renaissancestil umgebaut wurde. Im Laufe der Jahre wurde es von seinen Besitzern, der Fürstenfamilie Radziwill, für verschiedene Verwendungen mehrmals umgestaltet. Man nutzte das Schloss vorwiegend als Sommerresidenz.

Wir besichtigen das Wehrschloss und die dort ausgestellten Möbel, Waffen und Gobelins in den prunkvollen Sälen. Besonders beeindruckt mich eine Rüstung mit Flügeln. Sowas habe ich bisher nirgends gesehen. Unsere Führerin erklärt uns, dass vornehmlich Husaren ("Flügelhusaren") mit dieser Rüstung in den Kampf ritten. Sie bildeten im 16. und 17. Jh. die Elitetruppe der polnischen Armee. Das Rauschen der Flügel und die durch sie überhöhte Gestalt der Reiter sollten die Pferde des Gegners verschrecken und sie unkontrollierbar machen. Zudem schützte die geflügelte Rüstung den Träger vor Hieben auf den Rücken.

Glücklicherweise geht es danach mit dem defekten Bus nur noch ca. 30 km weiter. Die Räumlichkeiten unseres heutigen Übernachtungshotels befinden sich in einem Nebengebäude hinter dem Schloss Njasviz, Winterresidenz der Radziwills und ebenfalls als UNESCO- Welterbe gelistet. Das Schloss aus dem 15. Jh. liegt auf einer künstlich angelegten Insel am Ortsrand von Njasviz und ist durch einen festen Damm mit dem Festland verbunden.

Schloss Njasviz hat eine gelbe, prächtig verzierte Außenfassade. Wow! Das sieht wirklich fürstlich aus, unsere Erwartungshaltung wird nach oben gepuscht. Denn heute werden wir im Hotel Njasviz Palace nächtigen. Doch die Zimmer sind klein und stickig. Es gibt weder Klimaanlage noch Ventilatoren. Die Hotelgäste werden entgegen ihrer Erwartung in Gesindezimmern untergebracht. Mein Einzelzimmer hat eine Vollschräge und ist eine Dachkammer. Dagegen befindet sich das Schlossrestaurant "Hetmann" wirklich in den Schloßgebäuden. Es soll eine spartanische Karte und zudem Touristenpreise haben.

Wir suchen zum Dinner lieber die See-Terrasse des rustikalen Restaurants Kharcheunya auf, das nur wenige hundert Meter über den Damm vom Schloss entfernt liegt. Zufällig sind alle bis auf einen Mitreisenden dabei und wir alle sind von der zwanglosen Atmosphäre und der eifrigen jungen Servicekraft begeistert. Das Preis-Leistungsverhältnis ist perfekt.


Mi 29.05.2019 Njasviz - Dudutki - Wicebsk

Das Städtchen Njasviz erlebte seine Blütezeit als es im 16. Jh. zur Residenz der Radziwills wurde. Unter Mikolaj Krzysztof Radziwill entstanden hier die erste Druckerei und das erste Theater des heutigen Belarus. Einige Ausstellungsstücke befinden sich hierzu noch im Schlossmuseum, u.a. hölzerne Maschinen zur Erzeugung von Wind- und Regengeräuschen.

Radziwill ließ außerdem die alten Holzbauten in Steinhäuser umwandeln, wobei er sich an der mitteleuropäischen Architektur orientierte. Seine Hochphase hatte der Radziwill- Clan in jener Zeit, als Weißrussland Teil des Großfürstentums Litauen war. In dem großen Staat, der von der Ostsee bis ans Schwarze Meer reichte, bekleideten die Radziwills viele hochrangige staatliche, militärische und kirchliche Ämter. Während der Führung werden wir besonders auf das Bildnis einer jungen Adligen aufmerksam gemacht, deren Schönheit landesweit gelobt worden sei. Die Darstellungen der etwas älteren Damen sind dagegen eher wenig schmeichelhaft.

Bei dieser Gelegenheit muss ich mal loswerden, dass die heutigen jungen Mädchen und Frauen in Belarus von auffallender Schönheit sind. Ich bitte, diese Anmerkung als Kompliment zu werten und nicht in die Sexismus- Schublade zu stecken.

Wir haben einen neuen Bus aus Minsk geschickt bekommen. In dem Mercedes- Bus können endlich auch großgewachsene Menschen besser sitzen. Unsere Reise geht wieder in das Minsker Gebiet. Der Kreis schließt sich langsam.

Im Ethnologischen Freilichtmuseum von Dudutki wird demonstriert, wie man früher auf dem Land gelebt und gearbeitet hat. Die charmante Belarussin Anna führt uns durch die alten Handwerke, deren Werkstätten in Räumen in garagenähnlicher Anreihung untergebracht sind. Auf dem Gelände finden wir eine Käserei, eine Brennerei, eine Schmiede, eine Töpferei und eine Bäckerei, die auch eigene Produkte hergestellt und zur Verkostung anbietet, sowie einen Keramik- Workshop. Außerdem gibt es eine Oldtimer- Ausstellung, zu der auch ein eroberter Horch aus dem Zweiten Weltkrieg gehört.

Johannes, unser jüngster Reisekamerad, wird von Anna als Schmiedegehilfe abkommandiert. Er bewährt sich ausgezeichnet und darf als Dank das von ihm geschmiedete Hufeisen behalten.

Als weißrussisches Souvenir gelten u.a. Erzeugnisse aus Stroh. Das Flechten von Strohhüten und –spielzeugen ist in Belarus eine alte Tradition.

In der Brennerei kosten wir den traditionellen Samahonka, einen Wodka aus eigener Produktion des Museumsdorfes. Es gibt eine Ausnahmegenehmigung der lokalen Behörden für den Selbstgebrannten, der eine gute Qualität hat und mit 45-50 %Vol recht stark ist.

Bei Festen ist es üblich, dass - wie in Georgien - ein Tamada, ein Moderator, die Anwesenden mittels Trinksprüchen und Spielchen dirigiert. Wasili hat mich für einen Trinkspruch an alle Mitreisenden auserkoren.

Viele meinen, der russische Trinkspruch laute "Na sdorowje!", doch das bedeutet Wohl bekomms! und ist eher ein Essensspruch. Richtig heißt es "Sa sdorowje!" Für die Gesundheit! Auf belarussisch sagt man "Budzma!". Wer wirklich angeben möchte (so wie ich in Dudutki): За здоровье всех присутствующих "Sa sdorowje sjech prisuch stuische!" - Auf die Gesundheit aller Anwesenden!

Inzwischen hat sich eine "Wodka- Connection" gebildet, zu der neben mir noch Reinhard, Ronald, Verena, Petra und Birgit gehören.

Die weissrussische Küche ist historisch zweigeteilt. Es gab die aristokratische Nobelküche nach europäischen Standards und - für den überwiegenden Teil der Bevölkerung - die einfache Bauernküche. Und so sieht es heute aus:

Auf dem Tisch finden sich neben Hering, Salzgurken, eingelegten Pilzen und Auberginen, Salaten und mehr, die Butterbrody. Das Wort stammt tatsächlich aus dem Deutschen und bezeichnet mit Käse, Wurst, Kaviar (meist kein echter) oder Lachs belegte Butterbrote.

Danach werden im Land gerne deftige Suppen serviert. Die Königin aller Suppen ist wohl der Schtschi, die Weißkohlsuppe - im Sommer aus frischem Kohl und im Winter aus Sauerkraut zubereitet. Ebenso beliebt ist Borschtsch, die ukrainische Rote Beete-Suppe, und Solyanka. Zu den typischen Gerichten der belarussischen Küche zählen auch Haladnik, eine kalte Suppe aus Sauerampfer, und Swekolnik, die erfrischende kalte Rote Beete-Suppe.

In der weißrussischen Küche dürfen zu fast keinem Gericht Kartoffeln fehlen. Wegen ihrer Liebe zur Knolle wurden die Belarussen von ihren Nachbarn früher sogar oft als „Bulbashi“ bezeichnet, was so viel heißt wie Kartoffelfresser. Nicht sonderlich nett, aber das stört hier niemanden. Die traditionelle belarussische Küche ist weitgehend fleischlos, da sich die arme Bevölkerung Fleisch kaum leisten konnte. Weitaus häufiger werden Gerichte mit Fisch und Krebsen serviert. Dazu gibt es Gemüse und vor allem Pilze.

Aber genausowenig wie es DIE deutsche Küche gibt - wir essen nicht alle und jeden Tag Schweinshaxen und Sauerkraut - gibt es nicht DIE weißrussische Küche. Die Menschen haben gelernt, sich nach Ihren Möglichkeiten vielseitig und abwechslungsreich zu ernähren. Das Warenangebot in den großen städtischen Supermärkten hat durchaus europäischen Standard.

Heute durchqueren wir das Land von West nach Ost, 400 km bis Wizebsk, Fahrtzeit 6 Std. Die Autobahnen verlaufen in Belarus gefühlt fast immer nur geradeaus (in diesem Fall Kurs Moskau), das ist sehr ermüdend. Dazu gesellt sich für den Busreisenden die eintönige Landschaft, die fast ausschließlich aus Feldern, Wiesen und Wäldern besteht, nur ganz selten unterbrochen durch eine kleine Ortschaft. Wir haben zudem das "Glück", fast die ganze Strecke durch Platzregen zu fahren. So schlafen wir abwechselnd immer wieder ein bis wir schließlich als Zwischenziel eine Tanke mit Schnellimbiß erreichen. Man wird wirklich bescheiden. Gestärkt mit einer Solyanka aus der Mikrowelle geht es weiter nach Wizebsk, die Heimatstadt von Wasili, die wir gegen 21:00 erreichen, und wo wir im Hotel Eridan einchecken. Es scheint, als seien wir die einzigen Gäste. Im Restaurant bekommen wir jedenfalls noch ein schmackhaftes Abendessen serviert.


Do 30.05.2019 Wizebsk – Polotsk – Berezinsky-Reservat

Wizebsk ist die östlichste Stadt unserer Reise. Auf Grund der Nähe zur russischen Grenze leben hier derzeit vorwiegend Russen. Bei einer Rundfahrt erkunden wir das einstige Zentrum europäischer Kultur. Wir sehen den Gouverneurspalast am Ufer der Düna, die altrussische Mariä-Verkündigungskirche auf dem Platz des 1.000-jährigen Jubiläums von Wizebsk und vieles mehr. Die Stadt war bereits früher ein beliebter Ort für verschiedene Künstler.

Der berühmte Marc Chagall wurde hier als Moische Schagalow geboren. In seinem Elternhaus erhalten wir einen Einblick in Chagalls Kindheit und Jugend. Viele seiner Werke können wir anschließend im Marc-Chagall-Art-Centre besichtigen.

Das Leben im Schtetl mit den ärmlichen Holzhäusern, aber auch die frohen Feste und jiddischen Rituale bei Hochzeiten, bei Begräbnissen und am Schabat inspirierten Chagall zu seinen Bildern. Berühmt sind seine Darstellungen fliegender Liebespaare.

Im Anschluss fahren wir weiter nach Polotsk. Mit der ersten urkundlichen Erwähnung 862 ist es die älteste Stadt Weißrusslands. Im 12. Jh. war Polotsk sowohl geistliches Zentrum als auch Kultur- und Handelszentrum.

Euphrosyne von Polotsk war die erste als Heilige anerkannte Frau in Belarus. Als sie zwölf Jahre alt war ging sie gegen den Willen ihrer Eltern ins Kloster zu ihrer Tante, die dort Äbtissin war. Später gründete sie ein eigenes Kloster im Norden der Stadt, das Euphrosyne- Erlöser- Kloster. Dieses Kloster besichtigen wir jetzt.

An Nachwuchs scheint es dem Orden nicht zu mangeln, es gibt dort Nonnen im Alter von 18 bis 98 Jahren. Beim Betreten der Klosteranlage müssen die Frauen ein Kopftuch tragen, ihre Schultern bedecken und einen langen Rock tragen - ersatzweise ein großes Tuch umhängen, das die Hosen verdeckt. Männer dürfen keine kurzen Hosen tragen. Eine Klosterangestellte führt uns. Ihre Aufzählung und Beschreibung der verehrten Heiligen und Seeligen ist voller Pathos, aber auch ein wenig langatmig...

Heute übernachten wir im Hotel Serguch inmitten des Berezinsky Biosphärenreservats (F/M/A). Das Hotel ist ein schmuckloser Betonneubau, der sich gleich neben dem parkeigenen Naturkundemuseum befindet.

Fr 31.05.2019 Berezinsky-Reservat - Chatyn - Minsk

Das Berezinsky- Biosphärenreservat wurde 1979 von der UNESCO als Welterbe aufgenommen. Im Naturmuseum gibt uns eine junge Frau anhand dort ausgestellter Präparate Erläuterungen zu den vielen Lebewesen, die man im Park finden kann. Wasili hatte "gestopfte" Wisente, Wölfe etc angekündigt, was mich zu der Bemerkung veranlasste, dass ich bisher nur gestopfte Gänse kenne. Unsere ungewöhnlich progressiv gestylte, aber sehr sachkundige Führerin weiß uns ebenfalls durch den einen oder anderen Scherz zu unterhalten. Mit ihrem Outfit, ihren Tattoos und dem Piercing, hätte ich sie eher in Wacken als hier angesiedelt. Gut so, dass mal wieder ein Vorurteil korrigiert wird.

Über 85 000 Hektar umfasst das Reservat insgesamt, eine Fläche so groß wie Berlin, und in seiner Mitte hat nur die Natur das Sagen. Der Mensch greift nicht ein.

Miss Heavy Metal führt unsere Gruppe auf einer leichten Wanderung über den Naturpfad des Reservats. Zusammen mit Verena nehme ich daran nicht teil, wir genießen stattdessen die Sonne auf der Hotelterrasse.

Die Suche nach lebendigen Exemplaren von Elchen und Wisenten, Braunbären, Wölfen und Luchsen, die alle hier im Park ihr Zuhause haben, bleibt für die Gruppe leider erfolglos. Lediglich in den angrenzenden kleinen Tiergehegen ist ein Bär und ein Wolf zu sehen, die dort aber nicht artgerecht untergebracht sind und an Hospitalismus leiden - so die Reisekameraden.

Anfang des letzten Jahrhunderts waren wildlebende Wisente oder Zubr, die europäischen Vertreter der Bisons, ausgerottet und in zoologischen Gärten gab es nur noch wenige Exemplare. Dank der erfolgreichen Nachzucht konnten seit den 50er Jahren wieder Tiere ausgewildert werden. Mittlerweile existiert eine halbwegs stabile Population.

Während man Ausschau nach den Wisenten hielt, hat wohl ein Geschwader Mücken die Gruppe ins Visier genommen - gut, dass ich vor der Wanderung den anderen mein mitgenommenes Mückenschutzspray angeboten habe. Gegen Mücken, Zecken und Fliegen habe ich auf meinen Reisen gute Erfahrungen mit "Anti-Brumm Forte" gemacht.

Nach 2 Stunden ist die Gruppe von der Wanderung zurückgekehrt und es geht weiter.

Unser nächstes Ziel ist die nationale Gedenkstätte Khatyn, die errichtet wurde zur Erinnerung an die belarussischen Dörfer und ihre Bewohner, die im Zweiten Weltkrieg von deutschen Truppen vernichtet wurden. Eine SS-Kompanie verübte hier in Khatyn eines der schlimmsten Massaker, bei dem 152 Dorfbewohner, darunter 76 Kinder, grausam ermordet wurden. Sie wurden in eine Scheune gesperrt und bei lebendigen Leibe verbrannt. Unvorstellbar! Nur drei Kinder, die sich tot stellten, überlebten. Der Dorfschmied war zu dieser Zeit nicht im Dorf. Als er zurückkam, traf er auf seinen sterbenden Sohn. Eine Statue von ihm mit dem Kind auf seinen Armen steht in der Mitte der Gedenkstätte. Zahlreiche Obelisken mit einer Glocke an ihrer Spitze stehen auf dem Gelände. Die Glocken von Khatyn schlagen gleichzeitig alle 30 Sekunden. Auf dem Boden des belarussischen Dorfes Khatyn befindet sich der weltweit einzigartige "Friedhof der Dörfer". Hier sind 185 belarussische Dörfer symbolisch begraben, die das Schicksal von Khatyn geteilt haben (das 186. nicht wieder aufgebaute Dorf ist Khatyn selbst).

Die Nazi- Truppen haben auf belarussischem Boden mehr als 260 Todeslager und Massenvernichtungsstellen errichtet. Die Gedenkstätte Khatyn schließt die Gedenkmauer ein, in deren Nischen sich Platten mit den Namen der Konzentrationslager und Vernichtungsstätten in Belarus befinden. Kinder haben Stofffiguren zum Andenken an die ermordeten Gleichaltrigen abgelegt.

Auf einer Granitwand sind die Appellworten der Umgekommenen an die Lebenden auf Russisch und auf Belarussisch verewigt. Wasili rezitiert sie zweimal für uns:

"Liebe Menschen, seid dessen eingedenk,
dass wir das Leben, unsere Heimat und Euch, lieben, geliebt haben.
Wir sind lebendig im Feuer verbrannt.
Unsere Bitte an alle:
Mag sich unsere Trauer und unser Leid in Euren Mut und Eure Kraft verwandeln,
damit Ihr Frieden und Ruhe in der Welt für ewig bestätigen könnt.
Damit von nun an nirgendwo und nirgendwann im Feuerwirbel das Leben stirbt! "

Wir gedenken mit einer Schweigeminute der Ermordeten. Ich habe Tränen der Trauer und der Ergriffenheit in den Augen und schäme mich derer nicht.

Im Sommer 1941 wurde ganz Weissrussland von der deutschen Wehrmacht und SS-Einheiten besetzt und mehr als 2,5 Mio. Menschen ermordet, ein Drittel der Bewohner des Landes, darunter fast die gesamte jüdische Bevölkerung. Das "Unternehmen Barbarossa", so der Codename für den Vernichtungskrieg der Nazis, sah die Ausrottung großer Teile der Bevölkerung vor.

Ab 1941 leisteten mehr als tausend Gruppen, die größte Partisanenbewegung ganz Europas, erbitterten Widerstand gegen die Besatzer. Hitlers Armee rächte sich grausam an den Partisanen und an der Zivilbevölkerung. Auch nach 75 Jahren ist der Widerstand gegen die Besatzer in Belarus nicht vergessen und das kann ich gut nachvollziehen. Die Menge an Heldendenkmälern, Gedenkstätten, Mahnmalen sowie heroischen Bildern und Skulpturen, muss man als Maßstab für das Leid der Bevölkerung unter der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg sehen. Die Wunden werden wohl erst nach mehreren Generationen heilen.

Auf dem Rückweg zum Bus und der Weiterfahrt spricht niemand von uns. Wir stehen unter dem belastenden Eindruck dieser Gedenkstätte, die an die Verbrechen unserer Väter und Großväter erinnert.

Zurück in Minsk besuchen wir zum Abschiedsessen das Restaurant Vasiliki mit einem (vom Veranstalter bestellten und von der örtlichen Agentur "ausgewählten" Ehepaar aus der Hauptstadt, das wir in unsere Unterhaltung mit einbeziehen. Es gibt einen leckeren gemischten Salat mit Vinaigrette, Rippchen in Weraschtschaka (helle Sauce und Fleischstückchen) mit Draniki und ein Stück Käsekuchen zum Dessert - das beste Essen während unserer Rundreise!

Die letzte Nacht in Belarus verbringen wir wieder im Hampton by Hilton Minsk City Centre.

Der ÖPNV in Minsk ist geprägt durch 2 Metrolinien (die 3. ist im Bau), Straßenbahnen, Elekrobusse und Marschrutkas, Kleinbusse älteren Baujahrs, die auch in die Außenbezirke fahren. Aber davon machen wir keinen Gebrauch - mit Ausnahme von Reinhard. Er probiert heute abend noch die Metro aus, er hat Russisch in der Schule gelernt.

Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) beschreibt die politischen Verhältnisse in Belarus wie folgt:

"Im Juli 1990 erklärte das Parlament der Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik die Souveränität des Landes. Mit einer Verfassungsänderung erwirkte Präsident Aljaksandr Lukaschenko 1996 umfangreiche Machtbefugnisse und legislative Rechte. Er beschränkte weitere Reformen zur Demokratisierung, Schaffung von Rechtsstaatlichkeit und freier Marktwirtschaft. Internationale Beobachter werfen Lukaschenko Willkür und Korruption vor. Seitdem ist das Verhältnis zur Europäischen Union angespannt. Belarus ist das einzige Land in Europa, in dem die Todesstrafe noch verhängt und vollstreckt wird, und das aus diesem Grund kein Mitglied des Europarates ist.

Obwohl sich Belarus als demokratischer Rechtsstaat bezeichnet, führt das ausgeprägte Präsidialsystem dazu, dass das Prinzip der Gewaltenteilung weitestgehend außer Kraft gesetzt ist. Zivilgesellschaftliche, nichtstaatliche Akteure sind staatlichen Repressionen ausgesetzt und werden nicht ausreichend an gesellschaftlichen und politischen Prozessen beteiligt..."

Belarus hat wohl einen weiten Weg zu wirklich demokratischen Verhältnissen vor sich. Präsident Aljaksandr Lukaschenko, dessen Kritiker ihn "Europas letzten Diktator" nennen, ist an einer Annäherung an den Westen jedenfalls nicht sonderlich interessiert. Demokratie hat Lukaschenko schon mehrmals als "bekloppt" bezeichnet. Und seine liberale Position wird wohl am ehesten charakterisiert durch seinen Slogan "Better to be a dictator than be a gay!", den er gegenüber dem damaligen deutschen Außenminister Guido Westerwelle geäußert hat.

Nach den offensichtlich zu Gunsten Lukaschenko gefälschten Ergebnissen der Präsidentschaftswahl 2020 gab es große Unruhen im Land, vor allem in Minsk. In deren Folge kam es zu einer Verhaftungswelle politischer Gegner, die führende Oppositionelle zur Flucht ins benachbarte Ausland zwang. Dazu gehört u.a. Swetlana Tichanowskaja. Maria Kolesnikowa, die sich gegen ihre Abschiebung wehrte, wurde aktuell (09/21) zu 11 Jahren Lagerhaft verurteilt. Niemand hat es für möglich gehalten, dass Lukaschenko ein Flugzeug einer irischen Fluglinie einfach so zur Landung zwingen kann, um einen missliebigen Journalisten zu verhaften. Doch genau das geschah Pfingsten 2021. Nun überwiegt die Sorge um Roman Protassewitsch.

Die Länder des Westens haben mit Sanktionen reagiert. Doch sie verpuffen, weil Putin seinen Kumpel Lukaschenko und die Wirtschaft von Belarus mit einem Kredit über 1,5 Mrd. US-$ hilft. Er hat sich zudem für einen Zusammenschluss Russlands mit Belarus ausgesprochen, das er schon seit vielen Jahren alimentiert. Das liegt auch nahe nachdem Belarus praktisch nur noch Wirtschaftsbeziehungen zu Russland unterhält, quasi wie ein Binnenland.

Der durchschnittliche Monatsverdienst beträgt zum Zeitpunkt unserer Reise in Belarus 400 US-$, vor 20 Jahren waren es noch 10 US-$. Der Lebensstandard ist immer noch weit unter dem anderer europäischer Länder. Belarus produziert im übrigen kaum Waren, die international nachgefragt werden. Eine Ausnahme bilden Bodenschätze, in großem Umfang wird Kalisalz gefördert.

Wie hat es Wasili gesagt "Wenn man sich im Lande nicht politisch abweichend äußert und betätigt, kann man in Belarus gut leben." Die Menschen sind pragmatisch und haben sich arrangiert. Fragt sich nur, wie lange noch. Wasili hat sich mit keinem Wort zu seinem Präsidenten oder der Politik des Landes geäußert und wir haben nicht insistiert.

Sa 01.06.2019 Minsk - Deutschland

Wir verabschieden uns von Belarus - "Spasiba i do swidanija! Danke und auf Wiedersehen!" - und fliegen zurück nach Deutschland.


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Das sind meine Reiseliteratur- Empfehlung für Belarus / Weißrussland:

Es gibt sehr wenig Reiseliteratur zu diesem Land. Einzig der Band "Reiseführer Weißrussland" aus der Trescher-Reihe Reisen kann hier empfohlen werden. Er wurde kurz vor unserer Reise neu aufgelegt.

Und wer ein wenig Herz-Schmerz-Erfahrungsbericht sucht, dem sei "Liebesgrüsse aus Minsk" von Nadine Lashuk empfohlen. Sie hat ihr Herz an einen Belarussen verloren - ein kluger und witziger Bericht über das Leben im Land am Ende von Europa. Die Autorin betreibt auch einen eigenen Blog: nadinelashuk.de

Sehr interessant und aufschlußreich ist die website der Bundeszentrale für politische Bildung mit ihren zahlreichen Beiträgen zu Belarus.



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